Kandidaten für die Wahl zum Leipziger Auwaldtier des Jahres 2001


von Dr. Wolf-Rüdiger Große

Traditionell wird am 16. April der Tag des Leipziger Auwaldes zum Anlass genommen, das Auwaldtier bzw. die Auwaldpflanze des Jahres zu küren. Auf diese Weise soll die Öffentlichkeit auf gefährdete Tier- und Pflanzenarten und deren Lebensräume aufmerksam gemacht werden. In die Vorauswahl für das Jahr 2001 wurden diesmal drei Tierarten aufgenommen, die eine sehr unauffällige und an Wasser gebundene Lebensweise haben und dem einen oder anderen vielleicht noch nicht einmal dem Namen nach bekannt sind. Es sind zwei Krebs- und eine Molluskenart.

 

Der Schuppenschwanz (Lepidurus apus)

Die Großbranchiopoden oder Urzeitkrebse sind wenig bekannt. Sie zählen phylogenetisch zu den ursprünglichsten und auch paläontologisch zu den ältesten Krebsen. Die Kiemenfüße existieren bereits seit etwa 200 Millionen Jahren und stellen damit wahrscheinlich die ältesten Tierarten der Erde überhaupt dar. Sie werden volkstümlich Urzeit-, Eiszeit- oder Himmelskrebse genannt. Die biologische Systematik stellt den Schuppenschwanz (Lepidurus apus) in die Ordnung der Rückenschaler (Notostraca), die zur Klasse der Kiemenfußkrebse (Branchiopoda) gehört.
Der Schuppenschwanz fällt durch sein 20 bis 30 Millimeter langes flaches Rückenschild sofort auf. Der Hinterleib der Krebse ragt frei unter dem Rückenschild hervor und ist oberseits mit schuppenartigen Chitinplatten besetzt. Das Schwanzsegment ist zu einer langen dünnen Gabel (Furca) ausgezogen.
Die Schuppenschwänze sind Bodenbewohner. Bei Sauerstoffmangel kann es vorkommen, dass sie mit der Bauchseite nur knapp unter der Wasseroberfläche schwimmen. In dieser Lage kann man deutlich die ständig schlagenden Kiemenfüße sehen. Notostraken sind Allesfresser. Mit Hilfe der Vorderkante ihres Schildes wühlen sie den Boden nach Nahrung auf, die sie mit Hilfe ihrer kräftigen Kiefer aufnehmen und zerkleinern. Daneben können sie auch Plankton filtern. Bei Massenvorkommen kommt es zum Kannibalismus.
Lepidurus apus ist in unserer Region eine charakteristische Kaltwasserart des Frühjahrs. Bereits im Januar/Februar beginnt teilweise noch unter dem Eis die Entwicklung der Krebse. Der Verbreitungsschwerpunkt der Art liegt in den Auen größerer Flüsse. Die Krebse besiedeln hier zeitweilig wasserführende Bodenhohlformen, die von Altarmen ehemals mäandernder Flüsse stammen. Die Eier der Krebse sind etwa einen halben Millimeter groß und glattschalig. Sie überdauern im Boden liegend Jahre oder Jahrzehnte. Derartige regelmäßige Vorkommen sind seit über 100 Jahren auch aus der Südaue von Leipzig bekannt. Sie lagen bis zur Braunkohleerschließung 1984 völlig im Wald. Lepidurus apus wurde hier 1955, 1965, 1969, 1980 und schließlich im April 2000 wieder gefunden. Andere Krebsarten wurden auch in Wiesenbereichen, wo sie artenarme konkurrenzlose Temporärgewässer oder Überschwemmungsflächen besiedeln, gefunden.
International wie national ist bisher wenig über Schutzmaßnahmen für diese interessante Krebsart bekannt. Es besteht die Gefahr, dass diese „lebenden Fossilien“ nach 200 Millionen Jahren Erdendasein nun unwiederbringlich verschwinden. Der hohe Stellenwert der Tiere in der Evolutionsforschung geht im Alltag unter. Sie sind wichtige Bioindikatoren, aus deren Vorhandensein auf biologische oder physikalische Parameter eines Habitats geschlossen werden kann. Sie sollten weit mehr als „Flagship species“ im engagierten Umwelt- und Naturschutz genutzt werden, wie es vom Panda-Bären oder vom Fischadler bekannt ist.


Der Kiemenfuß (Siphonophanes grubei)

Siphonophanes grubei ist eine charakteristische Leitform zeitweiliger (astatischer) Gewässer. Der Urzeitkrebs gehört zur Klasse der Kiemenfußkrebse (Branchiopoda) und in die Ordnung der Feenkrebse (Anostraca). Sie sind in ihrer Form seit dem Erdmittelalter (Jura) bekannt. Ihr Körper ist seitlich abgeflacht und ihnen fehlt das Rückenschild der Notostraken. Die bis 30 Millimeter langen Krebse sind transparent und schimmern gelblich bis grünlich. Feenkrebse schwimmen im freien Wasser mit der Bauchseite nach oben. Die sich ständig bewegenden dünnhäutigen Blattbeine vermitteln dem Beobachter den Eindruck eines durch das Wasser schwebenden Fabelwesens. Durch diese Bewegungen erfolgt der Ortswechsel, die Atmung und Ernährung der Tiere. So filtern sie Mikroorganismen und organische Schwebstoffe aus dem Wasser und transportieren die Nahrung in der Bauchrinne nach vorn zur Mundöffnung. Die Färbung der Feenkrebse ist stark von der Art der Nahrung abhängig.
Siphonophanes grubei kommt wahrscheinlich in zweigeschlechtlichen Populationen vor. Einzelbeobachtungen parthenogenetisch sich vermehrender Vorkommen sind umstritten. Das Männchen hat auffällig geformte Anhänge an den zweiten Antennen, die zur Umklammerung des Weibchens bei der Paarung dienen. Die Weibchen tragen am ersten und zweiten Hinterleibsring einen Eisack. Die Eischalen besitzen artspezifische Strukturen. Nachdem die Elterntiere bald nach der Paarung absterben, überlebt die Art als Dauerei am Gewässergrund über Jahre. Die Entwicklung wird meist stimuliert durch Austrocknung und Frost wieder einsetzen, wenn die Temporärgewässer im Frühjahr wieder geflutet sind.
Lebensraum von Siphonophanes grubei sind temporäre Gewässer. Das können im zeitigen Frühjahr Schmelzwassersenken und Pfützen ebenso wie periodisch wasserführende Altarmbereiche der großen Flussauen sein. Aufgrund ihrer speziellen Physiologie und raschen Entwicklung haben sie sich an diese Extremstandorte ideal angepasst. In warmen Frühjahren kann die Entwicklung von der frisch geschlüpften Naupliuslarve bis zum geschlechtsreifen Tier in acht Tagen abgeschlossen sein. Das erschwert die Nachweise in der freien Natur beträchtlich. Die Tiere werden einfach übersehen, und ihr Verschwinden durch Eingriffe in die Landschaft fällt gar nicht auf. Beim Erhalt der Art kommt dem praktischen Naturschutz damit eine besondere Bedeutung zu. Die Tiere müssen bekannt gemacht werden. Nur was der Mensch kennt, schützt er auch. Sonst sind die Feenkrebse, nachdem sie 200 Millionen Jahre überstanden haben, bald verschwunden.


Die Sumpfdeckelschnecke (Viviparus viviparus)

Die Sumpfdeckelschnecke aus dem Tierstamm der Weichtiere (Mollusca) gehört der großen Klasse der Schnecken (Gastropoda) an und ist aufgrund der Lage der Kiemen und des Baus des Nervensystems den Vorderkiemern (Prosobranchiata) zuzuordnen. Sie ist ein kiemenatmender Bewohner des Süßwassers. Vorderkiemer sind meist Schnecken mit großen kräftigen Gehäusen, die durch einen Deckel verschlossen werden. In Deutschland ist dafür der Name Sumpfdeckelschnecke verbreitet. Die Tiere können sich nämlich mit geschlossenem Deckel, längere Zeit lebend an Land erhalten, wenn sie durch den Wind ans Ufer geworfen werden oder die temporären Gewässer austrocknen. Schöne Färbungen und Oberflächenstrukturen zeichnen die Tiere aus. Von den etwa 60.000 weltweit vorkommenden Arten sind bei uns zwei vertreten. Viviparus contectus zeichnet sich durch ein ausgesprochen spitzes Gehäuse aus und hat meist zwei deutliche braune Linien auf dem Gehäuse. In den Tümpeln des Leipziger Auenwaldes findet sich Viviparus viviparus. Der Name „Lebendgebärende“ rührt daher, dass die Weibchen ihre dotterreichen Eier in einer Erweiterung des Eileiters solange aufbewahren, bis aus ihnen die Jungen schlüpfen. Erst dann werden die Jungen ausgestoßen.
Die Sumpfdeckelschnecken bewohnen im Leipziger Auwald nur noch wenige Temporärgewässer, meist Altarme der Flüsse oder Sekundärstandorte wie Kiesgruben oder Lehmabgrabungen. Die Gewässer sind meist wärmegetönt und pflanzenreich. Die Vorkommen beschränken sich beispielsweise im Naturschutzgebiet an den Papitzer Lehmlachen in der Leipziger Nordaue auf die Kieslöcher des ehemaligen Neuen Geheges oder der Pautzke II, ein Restkolk der Weißen Elster. Die Sumpfdeckelschnecken wühlen im Schlamm der Tümpel nach Nahrung und können auch Plankton filtern. Dazu besitzen sie eine zweigeteilte Mantelhöhle, die an der Basis eine gutentwickelte Schleimrinne aufweist. Dort werden Schwebstoffe und Mikroorganismen aus dem Atemwasser gefiltert und der Mundöffnung zugeführt. In sauerstoffarmen Gewässern ist das Strudeln von großem Wert, da sich die Schnecken dort nahe der Wasseroberfläche aufhalten müssen, wo sie keine Nahrung zum Abraspeln finden. Besonders im Frühjahr werden aber auch Wasserpflanzen gefressen. Das Tier ist dann ein typischer „Weidegänger“. Zum Abraspeln der Wasserpflanzen haben sie im Schlund eine gut entwickelte Reibeplatte (Radula).
Trotz der biologischen Anpassungsfähigkeiten ist die Art im Leipziger Auenwald nahezu ausgestorben. Die Ursachen dafür liegen vor allem in den phenolhaltigen Hochwässern in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie konnten nur an wenigen Stellen überleben. Es bleibt abzuwarten, wie sich die als robust bekannte Art in der Zukunft etabliert.